



Editorial
Festival Retz "Offene Grenzen" 2022 - zurück auf der Bühne!

Geschätztes Publikum,
werte Unterstützerinnen und Unterstützer unserer Kulturinitiative,
liebe Freundinnen und Freunde des Festival Retz „Offene Grenzen“,
die Corona-Pandemie hat unseren Lebensalltag radikal verändert. Die gesellschaftlichen Herausforderungen sind gewaltig und werden uns Jahrzehnte beschäftigen. Viele Menschen bangen um Ihren Arbeitsplatz. Manche erfahren Not und Leid. Vereinzelung und Vereinsamung sind gegenwärtig. Nicht wenige haben gar den Verlust nahestehender Personen zu beklagen. Gerade in und nach überstandenen Krisen ist es daher eine zwingende Notwendigkeit, den Wertekanon unseres Zusammenlebens auf den Prüfstand zu stellen, Bedeutungen und Wichtigkeiten zu hinterfragen und neuen Sinn zu stiften. Kunst und Kultur leisten hierbei einen essentiellen Betrag.
Reorganisation des Festival Retz
Doch gerade die Kunst – explizit die Darstellende Kunst, das Musik- und Sprechtheater – war und ist von den geltenden Restriktionen zur Eindämmung der Pandemie in besonderer Weise betroffen. Im Sommer 2020 hat das Festival Retz versucht, diesen Gegebenheiten mit einem spontan ins Leben gerufenen Konzert- und Literaturpfad an Spielstätten im Freien entgegenzutreten. Dieses Konzept fand großen Anklang bei Publikum und Kritik, hat aber zugleich unsere organisatorische und personelle Struktur deutlich überfordert. Wie vielerorts – so auch bei uns – offenbarte die Corona-Pandemie schonungslos strukturelle Mängel. Aus diesem Grund haben wir im Jahr 2021 pausiert, um unsere Organisation neu aufzustellen. Mit tatkräftiger Unterstützung der neuen politischen Amtsträger der Stadtgemeinde Retz und in enger Abstimmung mit der Kulturabteilung des Landes Niederösterreich ist es in den vergangenen Monaten gelungen, den Trägerverein zu reorganisieren und engagierte Personen für die Mitarbeit an unserem Festival zu gewinnen.
Neubeginn mit einem Meisterwerk sakraler Kompositionskunst
Mit diesem neu formierten Team wagen wir nun einen Neuanfang und kehren nach zweijähriger Abstinenz mit einer Kirchenoper zurück auf die Bühne! Für die szenische Aufführung in der Stadtpfarrkirche St. Stephan haben wir ein Meisterwerk der sakralen Kompositionskunst ausgewählt – Felix Mendelssohn Bartholdy: „Elias“. Detaillierte Informationen zum Stück, den Aufführungsterminen und zum Kartenvorverkauf finden sich unter dem nachstehenden Link:
Zur Aufführung großer Werke unter schwierigen Rahmenbedingungen
Auf den ersten Blick scheint es durchaus absurd, dass wir unter den gegenwärtig herrschenden Rahmenbedingungen für unsere Kirchenoper ein Oratorium ausgewählt haben, welches nach den Vorstellungen des Komponisten ausdrücklich eine große Besetzung erfordert. Doch zahlreiche, gewichtige Gründe haben uns veranlasst, dieses Wagnis einzugehen: So wollten wir unseren Neubeginn mit einem erstklassigen und zugleich populären Werk zelebrieren. Darüber hinaus eröffnet diese wuchtige Komposition mit kraftvollen Chören die Möglichkeit – sollte dies auf Grund der pandemischen Lage im kommenden Sommer, entgegen aller Erwartungen und Prognosen, notwendig sein – unsere Produktion auch in einer Open-Air-Variante den Zuseherinnen und Zusehern präsentieren zu können, ohne dabei allzu schmerzhafte Abstriche in akustischer Hinsicht hinnehmen zu müssen. Ausgehend vom Inszenierungskonzept lässt sich der Probenablauf perfekt in getrennten Gruppen gestalten. Ein ausschließlich musikalisch agierender Zusatzchor, ein szenisch eingebundenes Vokalensemble, eine kleine Besetzung von vier handverlesenen Solistinnen und Solisten sowie das kammermusikalisch besetzte Orchester werden erst in den Endproben zusammengeführt. Hiervon versprechen wir uns für unsere mitwirkenden Künstlerinnen und Künstler ein zusätzliches Maß an Sicherheit im Probenprozess weit über die geltenden Test- und Hygienemaßnahmen hinaus.
Große Werke in reduzierter Orchesterbesetzung
Nicht zuletzt ist es auch die vorliegende Fassung für kammermusikalische Bläserbesetzung des Carus-Verlags Stuttgart, die uns dazu bewogen hat, eine Aufführung des „Elias“ ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Die handwerklich gelungene Bearbeitung von Joachim Linckelmann bewahrt dabei sowohl den sinfonischen Charakter des Werkes als auch die hohe dynamische Bandbreite. Mehr noch: Wir erhoffen uns eine größere klangliche Transparenz in Bezug auf die akustischen Gegebenheiten eines großen Sakralraums.
Der besondere Reiz einer szenischen Aufführung
Verstörend aktuell sind die Themenkreise des Oratoriums „Elias“ aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Naturkatastrophen und Seuchen lösen die bestehende gesellschaftliche Ordnung auf und stürzen ein ganzes Volk in Hilflosigkeit und Verwirrung. Heilsversprechen werden willfährig aufgenommen, münden letztlich aber in Chaos und Totschlag. Die musikalische Apotheose der Titelfigur steht somit diametral einer zeitgenössischen Lesart des Librettos entgegen. Diese werkimmanenten Gegensätze szenisch zu beleuchten stellt den besonderen Reiz der Aufführung beim Festival in Retz dar.
Literatur- und Konzertprogramm beim Festival Retz:
Von Wissenschaft, Prophetie, Propaganda, Desinformation und Lügenmärchen
Unserer langjährigen Tradition folgend entwickeln wir das jeweilige Literaturprogramm aus dem Sujet der Kirchenoper, in deren Zentrum die durchaus kritisch zu hinterfragende Figur des Propheten Elias steht. Prophetie in einem religiösen Kontext ist Offenbarung, gottgegebenes Erkennen. Prophetie in einem säkularen Verständnis ist eine Ahnung, bestenfalls eine Vorhersage.
Nie zuvor war es so herausfordernd, Kriterien für eine persönliche Entscheidungsfindung aus einer überbordenden Informationsflut zu destillieren. Was ist wahr? Was ist falsch? Was ist gesichertes Wissen oder zumindest evident? Was ist Unfug? Was Scharlatanerie? Und wie lässt sich diese entlarven?
Wir leben in einer Medienwelt verbunden mit einem Overkill an Informationen. Jedes Wissen, jede Meldung, jede Nachricht ist immerwährend und überall verfügbar. Soziologische Studien belegen hinreichend, dass wir uns bei der Selektion dieser Information in selbst gewählten Blasen bewegen, sei es unser Freundeskreis, die Messenger-Gruppe, die Echokammer unseres Social-Media-Accounts, die Auswahl des Zeitungsabonnements oder des Fernsehprogramms. Wem schenken wir unser Vertrauen? Und warum?
Impfgegner, Leugner der Corona-Krise und des Klimawandels führen uns tagtäglich vor Augen, wie groß der Vertrauensverlust gegenüber der Wissenschaft geworden ist. Alternative Fakten – was für ein Wort – werden zum integrierenden Element, zum Credo eines hermetischen Zirkels. Je absurder die Behauptung, desto inbrünstiger ist das Bekenntnis einer Stammeszugehörigkeit. Gleichzeitig gibt es aber auch berechtigte Kritik an universitären Kreisen, die beharrlich an längst überkommenen Deutungsmodellen festhalten, die hinlänglich durch aktuelle Erkenntnisse widerlegt sind. Wem also Glauben schenken?
Im Spannungsfeld dieser skizzierten Koordinaten bewegen sich die literarischen und musikalisch-literarischen Programme beim diesjährigen Festival. Details zu den eingeladenen Autorinnen und Autoren sowie den jeweiligen Ensembles werden im Rahmen eines Pressegespräches Anfang Mai bekanntgegeben.
Sehr geehrte Damen und Herren, ich darf Sie schon jetzt herzlich einladen zu einem dreiwöchigen Veranstaltungsreigen, der gleichermaßen geistreiche Unterhaltung wie musikalischen Hochgenuss verspricht. Ich freue mich auf ein Wiedersehen im Sommer beim Festival Retz!
Alexander Löffler
Künstlerischer Leiter