KAIN IN UNS

Musikreisende der Zeit rühmen sich, seine Bekanntschaft gemacht zu haben. Seinen Schülern Pergolesi, Jommelli und Piccinni, dem Kontrahenten Glucks im „Pariser Opernstreit“, gereicht die Lehrzeit bei ihm zu Ehre und Karriere. – 1694 ist er geboren. Oder 1701. 1744 stirbt er. Auch das ist nicht sicher. – Ein Künstlerleben rechnet sich nicht in Jahren, sondern in Werken. Auf über 500 Opera – Musiktheater, Oratorien, beeindruckende Sakral- und virtuose Instrumentalkompositionen, darunter sechs brillante Cellokonzerte – hat es Leonardo Leo gebracht.

Stiller Zeitgenosse

Venedig verliert Anfang des 18. Jahrhunderts seine Vormachtstellung in der europäischen Musiklandschaft. Neapel ist nach London und Paris die drittreichste Metropole des Abendlandes. Das Kulturleben wird zum Spiegel des Wohlstands. Hier gastieren vergötterte Kastraten und gefeierte Primadonnen. Das Publikum ist versessen auf Gesang. Die Komponisten tragen dem Hype mit virtuosen Trapezakten der menschlichen Stimme Rechnung. Die vier (!!!) Konservatorien der Stadt werden zu Magneten für eine Komponistengeneration, welche die Ära des Barock in die Epoche der Klassik überführt. Zusammen bilden sie die „Neapolitanische Schule“. – Im Unterschied zu seinen schillernden Zeitgenossen ist Leonardo Leo ein stiller Mensch. Karrierefördernde Reisen hat er nicht viele absolviert. Keine Anekdote setzt seinem Genie das menschlich-allzumenschliche Epitaph.

Nach seinen Studien in Neapel und Rom wird er in seiner Vaterstadt Kirchenkapellmeister. Später bekleidet er das Amt des Direktors am neapolitanischen Conservatorio Sant’Onfrio. Seine knapp hundert erhaltenen musikdramatischen Arbeiten sind Fundgruben herrlicher Arien, die wie aus dem Handgelenk geschüttelt scheinen. Leo versteht sich auf Pathos und Emphase, auf humoristische Leichtigkeit und ergreifende Schlichtheit. Er verfügt über die nötige Raffinesse, das Publikum in Bann zu ziehen, und zugleich über die menschliche Authentizität, dunkler gestimmte Saiten der Seele zum Klingen zu bringen.

Kain und Abel

Zu seinen Lebzeiten ist die Oper die Haupteinnahmequelle eines Komponisten, die „Azione sacra“, das Oratorium, dagegen, vom kreativen Aufwand nicht weniger anspruchsvoll, finanziell gesehen eher Zubrot. – 1732 verfasst der Wiener Hofdichter Pietro Metastasio für Antonio Caldara, seinen Amtskollegen von der kaiserlichen Hofmusikkapelle, den Text zu La Morte d’Abel(e) figura di quella del nostro Redentore. Darin deutet er das erste Gewaltopfer der Menschheitsge-schichte als Vorwegnahme des Leidens Christi.

 

Metastasios Texte erfreuen sich aufgrund ihrer hochmusikalischen Sprache und ihrer ausgefeilten Dramaturgie im 18. Jahrhundert großer Beliebtheit. Auf 30 bis 40 Vertonungen bringt es jedes seiner Libretti im Lauf der Zeit. So auch La Morte d’ Abele. Sechs Jahre nach der Uraufführung macht sich Leonardo Leo daran, das Werk für Bologna zu vertonen. Es mag – wie viele sakrale Werke damals – eine Gelegenheitsarbeit zum einmaligen Gebrauch gewesen sein, doch dürfte die hohe musikalische Qualität dermaßen überzeugt haben, dass zur Fastenzeit 1750 eine Wiederaufführung in Bologna dokumentiert ist.

 

Das ungewöhnliche Interesse an dem Werk über den Tod seines Komponisten hinaus begründet sich darin, dass Leo im Unterschied zu Caldara und all jenen, die sich in der Folge der Textvorlage bedienten, die Personen aus der biblischen Schablone herauslöst und ihnen menschliche Glaubwürdigkeit verleiht. Seine kompositorische Deutung ist mehr psychologisches Sozialexempel, denn moralisierende Standpauke. Leo schreibt den Figuren ihre kunstvollen Arien und eindringlichen Ariosi nicht bloß in die Kehlen, sondern unter die nackte Haut. Direkt auf die blanke Seele.

 

Ob solcher Eindringlichkeit verwundert es, dass das Werk in Vergessenheit geriet. Bislang existierte keine gedruckte Partitur. Luca De Marchi, musikalischer Leiter der österreichischen Erstaufführung in Retz, erstellte in detektivischer Kleinarbeit aus den vier in italienischen Archiven erhaltenen, höchst divergenten Kopistenhandschriften eine Fassung, deren Ziel es ist, die dramatisch-vitale Ausdruckskraft Leonardo Leos wieder zum Erklingen zu bringen.  

Mörderische Reue

Als Einheit von Ort, Zeit und Handlung erzählt Metastasio von den rivalisierenden Söhnen Adams und Evas. Die Eltern haben gegen das Gebot Gottes gehandelt und sind des Paradieses verwiesen worden. Vom Sündenfall traumatisiert, suchen sie, durch Reue und Buße Verzeihung zu erlangen. Ihre Hoffnung ruht auf ihren Söhnen. Doch während der erstgeborene Kain vergeblich Sühneopfer darbringt, wird jenes von Abel angenommen. Von Eifersucht gepackt, erschlägt Kain

seinen Bruder und zieht fortan ruhe- und heimatlos über die Erde wandern.

 

Für Regisseur Sebastian Hirn wird die Konzentration Metastasios auf das Verhältnis der Eltern untereinander und zu ihren Kindern zum Ausgangspunkt einer theatralen Setzung, die in ihrer klaustrophoben Enge an Strindbergs  Beziehungskonstrukte gemahnt: Gefangen in der Stadtpfarrkirche St. Stephan in Retz tut das Paar Buße. Übt sich in Reue. Und zerfleischt sich mit gegenseitigen Schuldzuweisungen. Die pathologisch übersteigerte Hoffnung auf Vergebung lastet auf den Söhnen. Die psychische und physische Gewalt, die Adam gegen seine Frau walten lässt, überträgt sich auf das Verhältnis von Kain und Abel.

 

Die Verachtung, die dem noch im Paradies im Zustand der Sünde gezeugten Kain von Seiten seines Vaters entgegengebracht wird, die Zuwendung, die Adam seinem „erfolgreichen“ Zweitgeborenen angedeihen lässt – aus der perfiden Manipulation unschuldiger Kinderseelen, aus gezielt gestifteter und permanent befeuerter Zwietracht erwächst das Verhängnis. Und wird weitervererbt. Von Generation zu Generation. – „Wir verdammen Kain und vergessen dabei, dass wir ihn in uns tragen“, zieht der finale Chor Bilanz. Der Mord findet immer wieder statt.  – Keine Nachrichtensendung, die nicht auf globaler, regionaler oder lokaler Ebene von Kain und Abel berichtet.

Macht der inneren Bilder

Das Oratorium, das sich Mitte des 17. Jahrhunderts entwickelte, ist nicht im Hin-blick auf szenische Realisierung konzipiert, sondern darauf ausgerichtet, innere Bilder zu evozieren. Es ist, vereinfacht ausgedrückt, ein „Hörspiel“, das Konflikte auf der Bühne der kollektiven Vorstellung ausbreitet. Die „Azione sacra“ mit ihrer Reduktion narrativer Elemente (Eliminierung einer Erzählerfigur) mag zwar die szenische Umsetzung erleichtern, doch ihr sakraler Aufführungsort schränkt die Möglichkeiten theatraler Aktion erheblich ein.

 

Eine Kirche als Bühne – gar der weltlichen (!) Oper – zu adaptieren, war im 18. Jahrhundert nicht statthaft. Es fehlen die Quellen, die Rückschlüsse auf die zeitgenössische Aufführungspraxis in Kirchenräumen zuließen. Die Regie dürfte sich darauf beschränkt haben, die Interpreten mittels Kostüme zu charakterisieren. Den inszenatorischen Rest erledigte wohl die rege Fantasie des mit den Stoffen bestens vertrauten Publikums.

 

Wir kennen die Macht innerer Bilder: Wir lesen einen Roman. Schauen, je nach sprachlichem Vermögen der Autorin oder des Autors, die Protagonisten vor uns, die Orte des Geschehens, haben Geräusche im Ohr, Gerüche in der Nase, Geschmack auf den Lippen. Und dann sehen wir die Verfilmung des Romans. Finden nichts von dem, was wir lesend erlebt haben, wieder. Nicht selten sind wir enttäuscht. Mitunter fühlen wir uns betrogen.

 

Ähnlich verhält es sich mit dem Oratorium, dessen narrative Dramaturgie auf kontemplative Reflexion zielt und nicht auf dramatische Illustration. Die Oper packt uns, fährt uns ins Gemüt, macht uns staunen, lässt uns mitfiebern. Das Oratorium wirft uns auf uns selbst zurück. –  Ein Oratorium zu inszenieren, ist Königsdisziplin. Denn die inneren Bilderwelten unseres Unterbewusstseins, sind eindringlicher, tiefenschärfer, leuchtkräftiger, effektvoller, als modernste Bühnentechnik sie zu realisieren vermag.

Neue Präsentationsformate

Aus diesem Grund hat es sich das Festival Retz zur Aufgabe gemacht, für die szenische Realisierung von Oratorien neue Präsentationsformen zu entwickeln, die den Spezifika dieses Genres gerecht werden. Mit den digitalen Medien steht ein Ausdrucksmittel zur Verfügung, analoge Darstellung virtuell zu erweitern und da-mit dem Publikum neue Wahrnehmungsräume zu erschließen. Dabei handelt es sich nicht um bewegte Hintergrundtapeten, die der effektvollen Illustration der Bühnenhandlung dienen, sondern um visuelle Assoziations- und Reflektionsebenen, die, mit Musik und physischer Darstellung harmonisiert und synchronisiert, auf das Unterbewusstsein des Publikums potenzierend einwirken. 

 

Die Schweizer Animationsfilmerin Nicole Aebersold, Absolventin der Filmuniversität in Potsdam, beschäftigt sich in ihren Arbeiten damit, die „unbewusste Bilderwelten“ sichtbar zu machen. 2019 wurde sie für ihren Streifen „Rumours“ für den Oscar Student Award nominiert. Sie veranschaulicht darin die Rücker-oberung einer Stadt durch die Natur. Ihre Darsteller sind echte, über mehrere Jahre hin „dressierte“ Pflanzen. Im selben Jahr realisierte sie am Ballett Dort-mund das erste intermediale Ballett der Tanzgeschichte, „Fluid housing“, eine Kreation, bei der sich analoger Bühnentanz und digitale Bühnenarchitektur zur untrennbaren Bewegungseinheit verbinden.  

 

Für die Stadtpfarrkirche von Retz entwickelt sie ein Konzept, das den virtuell inszenierten Altarraum in kontrastive Beziehung zur analogen Szene setzt. Aus-gehend von der barocken Darstellung vom gewaltsamen Ende des Heiligen Stephan, des ersten christlichen Märtyrers, spannt sie mittels komplexer animatorischer Prozesse den Bogen zur Lebensrealität des Retzer Landes und seiner Bewohner_innen. – „Jeder Ort kann ein Tatort sein“, meint Aebersold. „Und jede Zeit Tatzeit…“

An den Dreharbeiten beteiligten sich rund 100 Bürgerinnen und Bürger der Region im Alter von 1,5 bis 85 Jahren. Als ruheloses Kondukt ziehen sie neben dem unabwendbaren Todeslauf des biblischen Brüderpaares her. Am Tatort vorbei. Immer vorbei. In alle Ewigkeit. Abel betrauernd. Kain in sich.

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Christian Baier

Intendant